Die Anatomie der Seeigelstacheln

Klaus Vöge

 

Die Stacheln sind bewegliche Anhänge der Seeigel von verschiedener, oft artbestimmender Form. Auf dem Gehäuse der Seeigel sind meistens unterschiedliche Stacheln in Größe und Form vorhanden.
 
01 div stachelformen01a groessenvergleich 1
Die Stacheln sind in Form und Größe sehr unterschiedlich.
 

Durch die Muskelfasern sind sie beweglich auf den Warzenköpfen befestigt. Die Stacheln dienen vorwiegend zum Schutz, aber auch zur Fortbewegung. Einige Seeigel bohren sich mit Hilfe der Stacheln und der Zähne in harten Felsen, ja sogar in Stahlpfeiler. Der Warzenkopf sitzt fest auf der Schale. Der Kalk hat hier ein festeres Gefüge als das übrige Gehäuse und ist ungewöhnlich glatt. Die Stachelpfanne liegt am unteren Ende des Stachels. Die Pfanne des Stachels ist klein ausgelegt und sichert damit eine größere Beweglichkeit auf der Corona. Oberhalb der Pfanne trägt der Stachel einen gezähnten Rand, der zur Befestigung der Muskelfasern dient. Ungefähr dreißig Muskelstränge umgeben das Stachelgelenk und drücken die Pfanne auf die Kugel. Die Muskeln, die den Stachel mit dem Warzenkopf verbinden, zerfallen in zwei getrennte Schichten. Die inneren bestehen aus weißen, langsamen Schichten (der Sperrmuskulatur). Die äußeren bestehen aus durchsichtigen, flinken Muskeln (der Bewegungsmuskulatur).

02 stachel auf igel
02a stachelkopf hals schaft
Schnitt durch einen regulären Seeigelstachel
ein Seeigelstachel

Der Stachel unterteilt sich in: Den Stachelkopf, das verdickte, basale Ende mit Stachelpfanne und Muskelansatzring, den Stachelhals, der etwas eingeschnürte Teil und den Stachelschaft oder –körper der rauhe, dornige oder gestreifte Hauptteil des Stachels. Die Stacheln werden, wie die Gehäuseplatten, von einem bewimperten Epidermisüberzug bedeckt. In der Epidermis befinden sich die Drüsenzellen und Nervenfasern. An der Spitze des Stachels wird die Schicht häufig abgerieben und durch eine Kalkinkrustation ersetzt. Bei vielen Seeigeln stehen rings um die Stachelwarzen kleinere Warzen für die Sekundärstacheln, welche bei Gefahr einen Schutzmantel um die muskelreiche Basis der Hauptstachel bildet. Die Sekundärstacheln können auch zwischen den Füßchen auf den Ambulakralfeldern stehen.

Das Gelenk der Stacheln: Gelenkkugel/Gelenkpfanne/Muskelansätze
03b muskelansatz
03 kugel
03a pfanne
04a epidermisschicht Die Epidermisschicht
04b sekundaerstacheln Die Sekundärstacheln am Stachelfuß
04c muskeln Die Muskeln fixieren die Stacheln

Wenn man die Haut eines Seeigels mechanisch reizt, so neigen sich Stacheln als Barriere dem Reizort zu. Es reagiert die Bewegungsmuskulatur. Die Zahl der sich neigenden Stacheln nimmt entsprechend der Reizung zu. Ist der Reiz von kurzer Dauer, schwingen die Stacheln in ihre Ruhestellung zurück. Bei längerer Reizdauer wird außer der Bewegungsmuskulatur auch die Sperrmuskulatur aktiviert. Dann verharren die Stacheln in der dem Reizort zugeneigten Stellung. Sie lassen sich durch keinen Druck bewegen und brechen eher ab oder springen aus dem Gelenk. Bei einem chemischen Reiz (wenn z.B. sich ein Seestern nähert) wird dagegen die starke Form des Stachelreflexes angesprochen. Bei diesem Reflex legen sich die Stacheln zur Seite und die globiferen Pedicellarien (Giftzangen) treten in Aktion, unterstützt von den tridenteten Zangen (Klappzangen).

SeeigenRuhestellung12 Der Seeigel in Ruhestellung
SeeigelAbwehr13 Abwehr bei leichter Berührung
SeeigelChemReiz14 Verteidigung bei chem. Reiz

 

Eine Frage stellt uns der Seeigel, die noch nicht geklärt ist. Die sehr beweglichen Pedicellarien sind laufend in Gefahr, in die eigenen Stacheln zu beißen. Damit dieses nicht geschieht, hat der Igel einen Stoff entwickelt, der dieses verhindert. Der Beweis sieht folgendermaßen aus: Berührt man mit einem Stachel des eigenen Seeigel eine Pedicellarie, so geschieht nichts. Kocht man diesen Stachel aus und wiederholt den Versuch, so schnappt die Pedicellarie zu. Dieses nennt man Autodermophilie.

Die Frage ob die Seeigel sich mit ihren Stacheln oder ihren Saugfüßchen bewegen, kann durch „mit beiden“ beantwortet werden. So wird bei vielen Seeigeln die ruhige Vorwärtsbewegung durch die Ambulakralfüßchen bewältigt. An vertikalen Glasscheiben und Steinen bewegt sich der Igel nur durch die Ambulakralfüßchen. Ebenso können alle Seeigelarten allein mit den Stacheln marschieren. Wenn dem Igel Gefahr droht und er auf der Flucht ist, kommen die Stacheln zum Einsatz. Hier setzen die Reflexe der Stacheln ein, um schnell aus der Gefahrenzone zu kommen. Auch wenn diese Flucht sehr diszipliniert erscheint (z.T. bewegen sich die Stacheln im Gleichschritt), gibt es kein Zentrum, dass die Gehbewegungen koordiniert.  Dieses bewirken nur die Reflexe der einzelnen Stacheln.

05b stacheln auf den Stacheln..
05a stacheln ..ist der Seeigel unterwegs

Auch die Wassertemperatur beeinflusst die Gehgeschwindigkeit. Bei 22 Grad führt der Seeigel doppelt so viele Schritte durch wie bei 13 Grad. Bei den Gehbewegungen sind die gesamten Stacheln des Igels beteiligt. So wird ein Körper, der dem gehenden Igel aufgelegt wird, ebenso von der Vorderseite zur Rückseite des Igels wandern, wie die Stelle auf dem Erdboden.  Wenn ein Seeigel auf dem Rücken zu liegen kommt, besitzen alle Tiere die Fähigkeit, sich wieder in die Normallage zu begeben. Auch hier spielen wieder die Stacheln mit den Saugfüßchen zusammen. Bei den langstacheligen Igeln schaffen es die Stacheln meistens allein. Bei den kurzstacheligen setzt eine Gehbewegung ein, bis der Seeigel an eine Schräge oder einen feststehenden Gegenstand kommt. Jetzt arbeiten Stacheln und Füßchen zusammen und richten das Tier wieder auf. Falls das Tier nicht in die Normalstellung kommt, verendet es.

 

06 gelenk Stachel, Bewegungsmuskel, Sperrmuskel und Epidermis mit Ringnerv

Bedingt durch die Lebensweise der irregulären Seeigel (teilweise oder ganz im Sediment lebend) sind die Stacheln der Irregulären fast alle zu kleinen Borsten umgestaltet. Sie dienen weniger dem Schutz als mehr der Fortbewegung und dem Materialtransport. Die Seeigel tragen ein regelrechtes Fell, so dicht sind die kleinen Stacheln auf der Corona angelegt. Wie alle Stachel sitzen sie auf einem Kugelgelenk und sind löffelförmig ausgebildet. Da die Löffel hauptsächlich zum Sandtransport benötigt werden, ist auch die Muskulatur darauf eingerichtet. Da die Stacheln keine Abwehrreaktionen zeigen müssen, ist die Sperrmuskulatur nur sehr gering ausgebildet. Die Bewegungsmuskeln sind auch sehr unterschiedlich groß. Die Muskeln auf der Unterseite der Stacheln sind relativ klein gegenüber den Muskeln auf der Oberseite der Stachen. Diese müssen die größere Leistung bringen, wenn sie mit dem Löffel den Sand bewegen müssen. Das heisst, dass die Löffelform immer nach außen zeigt.

MaretiaPlanulata6 7a Maretia planulata in“Stachelfell“ 
Echinocardium6 7b Stachel vom Echinocardium
Dendraster6 7c Stachel vom Dendraster

 

Da fossile Stacheln von irregulären Seeigeln kaum bekannt sind, muss man sie fast alle mit den rezenten Stacheln vergleichen. Die meisten sind klein, löffelförmig, in Wabenform und hohl.

Der Bauplan und das Baumaterial der Seeigelstacheln

Seeigel bevölkern seit über 500 Mill. Jahre die Weltmeere in vielen Formen.

07a karbonigel Archaeocidaris blairi Karbon (330 Mill J.)  
07b karbonigel Archaeocidaris rosica Karbon (330 Mill J.)

Die bekanntesten sind die kleinen, runden, regulären Seeigel, die sich mit ihren spitzen Stacheln gegen Fressfeinde und unvorsichtige Strandbesucher schützen. Seit vielen Jahren ist bekannt, dass die einzelnen Stacheln der Seeigel aus einem einzigen Calcit-Kristall bestehen. Was hat der Seeigel gemacht, damit seine Stacheln wesentlich bruchfester sind, als das im Meer leicht verfügbare  Calcit (CaCO3). Damit er fest, aber nicht spröde ist, baut der Seeigel Eiweißstoffe (Proteine) in das Kristallgitter der Stacheln ein, um das Splittern zu verhindern.  Die selektive Auslese von vielen Mill. Jahren Evolution haben einen stabilen Stachel in stoffdurchlässigem Leichtbauwerkstoff  erbracht. Gleichzeitig hat der Seeigel noch die materialsparende Wabenbauweise verwendet. Das bedeutet, dass einige Stacheln von rezenten Seeigeln in Wabenform gebaut sind und auch noch hohl sind. In den Hohlräumen sind organisches Material und Zellen eingelagert, mit deren Hilfe der Stachel wachsen kann und Brüche oder Risse ausgeheilt werden können. Wenn ein Stachel abbricht, ist der Seeigel in der Lage, dass er innerhalb von wenigen Tagen nachwächst. Jetzt konnte im Weizmann Institut gezeigt werden, wie der Seeigel dieses schafft. Das Material wird in einer nicht-kristallinen Form gesammelt und von der Basis des gebrochenen Stachels bis zur Bruchstelle geschoben. Hier verwandelt sich das amorphe Material innerhalb weniger Stunden in ein Calcit-Kristall, in dem sich die Moleküle in gleichmäßige Gitterformationen aufreihen. Aus dem Stumpf wachsen mikroskopische Nadeln, die sich danach zu seiner Art entsprechenden Gitterstruktur formieren. Die kristalline Struktur des alten Stachels stellt eine Art Schablone für die Aneinanderreihung der Moleküle in den Kristallen dar und gibt das komplizierte, genaue Muster des nachwachsenden Stachels vor. Bei rezenten Echiniden kann der mikroskopische Aufbau der Primärstacheln zum Bestimmen der Art genutzt werden.

08a echinus esculentus Echinus esculentus rezent  
08b echinus esculentus Stachelschaft
08c echinus esculentus Querschnitt eines Stachels  
08e diadema savignyi Diadema syvignyi rezent  
08f oberflaeche Geschuppt mit Spitzen  
08f hohl hohler Stachel

Bei fossilen Stacheln ist diese Bedeutung stark eingeschränkt. Durch die Calcit-Kristallisierung (Auskristallisierung der Zwischenräume im Stachel) sind die Strukturen des Stachelquerschnittes  nicht mehr sichtbar. Aber auch die äußeren Formen der Stacheln sind zur Bestimmung geeignet. Jedoch sind die Stacheln unterschiedlicher Arten des öfteren sehr ähnlich, oder die unterschiedlichen Arten sind nur an den Stacheln zu erkennen.

09a acrosalenia hemicidaroides Acrosalenia hemicidaroides Jura 
09b acrosalenia hemicidaroides Langer gegabelter Stachel
09c acrosalenia hemicidaroides Kristallisierte Bruchstelle  
09e tylocidaris baltica Tylocidaris baltica  Kreide 
09d tylocidaris baltica Verschiedene Stacheln  
09f tylocidaris baltica Struktur nicht zu erkennen  

Das bedeutet, dass isolierte Stacheln meistens nicht den entsprechenden Coronen zugeordnet werden können. Mit Sicherheit ist dieses nur möglich, wenn Gehäuse mit Stacheln als Beweis gefunden werden. Die Sekundärstacheln sind als Bestimmungshilfe praktisch unbrauchbar, da sie fast alle identisch sind.

Irreguläre Seeigel

Bedingt durch die Lebensweise der irregulären Seeigel (teilweise oder ganz eingegraben) sind die Stacheln der Irregulären fast alle zu kleinen Borsten umgestaltet. Sie dienen weniger dem Schutz als mehr der Fortbewegung und dem Materialtransport. Die Seeigel tragen ein regelrechtes Fell, so dicht sind die kleinen Stacheln auf der Corona angelegt. Wie alle Stacheln sitzen sie auf einem Kugelgelenk und sind löffelförmig ausgebildet. Da fossile Stacheln von irregulären Seeigeln kaum bekannt sind, muss man sie fast alle mit den rezenten Stacheln vergleichen. Die meisten sind klein, löffelförmig, in Wabenform und hohl.
10a echinocardium cordata Echinocardium cordate rez  
10b echinocardium Stachel in Löffelform  
10c echinocardium Wabenmuster und hohl  
   10e echinocardium Dendraster exentricus rez  
10f echinocardium Löffelförmige Stacheln 
10g echinocardium Oberseite 0,7 mm     
10j cardiotaxis lehmanni Borstenartige Stacheln  
10k cardiotaxis lehmanni Verbreiterte Stachelspitze 
10i cardiotaxis lehmanni Cardiotaxis lehmanni Kreide 

Ein Tipp für die unvorsichtigen Strandbesucher:

Die eingelagerten Proteine sind der Auslöser für die Schmerzen und Infektionen, wenn man sich die Stacheln in den Fuß getreten hat. Einige dieser Eiweißstoffe sind für den Menschen unverträglich und bewirken die Unannehmlichkeiten. Der Tropenarzt empfiehlt beim Tritt in einen Seeigel als erstes auf die Einstichstelle heißes Kerzenwachs zu tropfen, um die hitzeempfindlichen Eiweißstoffe zu zerstören. Danach sollte ein Verband mit frischem Papaya-Fruchtfleisch angelegt werden. Dieser sollte mind. 72 Stunden einwirken. Das Enzym „Papain“ löst den Stachel auf.

 

Literatur

GRZIMEK  Tierleben  Weichtiere / Stachelhäuter 

W. MARINELLI  Handbuch der Biologie Bd VI  1962

ARNO HERMAMM MÜLLER   Lehrbuch der Paläozoologie Invertebraten  1989

ANDREAS E: RCHTER  Handbuch des Fossiliensammlers

KARL A. v. ZITTEL   Grundzüge der Paläontologie   1903

HANS HESS   Die fossilen Echinodermen des Schweizer Juras

PATRICE LEBRUN     Oursins

KLAUS NICKEL   Bionik Stabiler Stachel des Seeigels

HELMUT CÖLFEN  BioPro  Geniales Bauprinzip der Natur: Seeigelstacheln

HAMBURGER ABENDBLATT   Schmerzhaft stabile Stacheln