BELEMNITEN DER OBERKREIDE

von Carsten Rohde

Die Familie Belemnitellidae PAVLOW, 1914


Teil 1:
Lebensraum und Lebensweise

Teil 1: Lebensraum und Lebensweise

Langsam stieg der Meeresspiegel und die gemäßigt temperierte Nordsee drang tief in das Norddeutsche Flachland vor. Nur die Mittelgebirge erhoben sich aus den Fluten, die sich im Süden (Anglo-Pariser Becken) und im Osten (in Senken vorbei am Böhmischen Massiv) mit den tropisch warmen Gewässern der Tethys mischten. Es bildete sich ein gigantisches Schelfmeer, das von Irland im Westen bis an den Ural im Osten reichte: die von Christensen (1976) so benannte Nordeuropäische Provinz (NEP, s. Grafik 1A).

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Die wenigen verbliebenen Belemnopseiden der Unterkreide zogen sich Richtung Tethys zurück und machten Platz für einen östlichen Einwanderer, die Belemnitengattung Praeactinocamax NAJDIN, 1964, die aus der russischen Subprovinz stammend, in kurzer Zeit flächendeckend die NEP besiedelte. Praeactinocamax begründete die neue polyphyletische Belemnitenfamilie Belemnitellidae PAVLOW, die die Oberkreide Nordeuropas stratigrafisch bestimmen sollte (auf der Südhalbkugel übernahm dies die Familie Dimitobelidae WHITEHOUSE).

Die Belemnitelliden wurden zuerst im Unteren Cenoman der nördlichen NEP mit Praeactinocamax primus ARKHANGELSKY nachgewiesen. Von hier aus drangen sie in die noch nicht durch einen mächtigen Atlantischen Ozean von Europa getrennte Nordamerikanische Provinz (NAP) vor, besiedelten später aber auch mit Praeactinocamax plenus NAJDIN die südlichen Bereiche der NEP sowie die angrenzenden Gewässer der Tethys.

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(Grafik 1A+ B aus: Kostak/Cech/Ekrt/Mazuch/Voigt/Wood (2004): Belemnites of the Bohemian Cretaceous Basin in a global context. Acta Geologica Polonica, 54(4),Warschau, s.524f.)

Im Turon spaltete sich die Osteuropäische Provinz (EEP) von der NEP ab (s. Grafik 1B). In der verbleibenden Zentraleuropäischen Subprovinz (CEP) sind Belemnitelliden nahezu unbekannt.

Die Osteuropäische Provinz brachte dagegen einen eigenständigen Kreis diverser Praeactinocamax Arten sowie die Gattung Goniocamax NAJDIN, 1964 hervor. Einwanderer aus der Nordamerikanischen Provinz besiedelten die CEP im Oberen Turon mit Praeactinocamax bohemicus STOLLEY, 1916 neu. Erst ab dem Mittleren Coniac fand wieder ein umfassender Populationsaustausch zwischen den beiden Europäischen Provinzen statt, der bis zum Ende der Oberkreide anhielt.

Eine letzte Wanderungsbewegung aus der NEP Richtung Nordamerikanische Provinz erfolgte im Übergang Santon/Campan durch die Gattung Belemnitella dORBIGNY, 1840.

Die Belemnitelliden waren Bewohner des vorkontinentalen Schelfmeeres, mit Tiefen von 100 bis 200 m und recht gleichmäßigen Wassertemperaturen um die 12 bis 17°C. Höhere Wassertemperaturen und größere Wassertiefen bildeten für diese Belemnitenfamilie dagegen unüberwindliche Hindernisse. Die vorgenannten Bedingungen legen das ökologische Fenster fest, in dessen Rahmen die Entwicklung der Belemnitelliden stattfand.

In den küstennahen Gewässern des Schelfmeeres wurden auch jene Sedimente abgelagert, in denen vereinzelt Rostren der verschiedenen Gattungen der Belemnitelliden gefunden werden: die Grünsande des Coniac/Santon ( Actinocamax, Goniocamax), die Kalkmergel des Cenoman und Campan (Praeactinocamax , Belemnocamax, Belemnellocamax, Belemnitella) sowie die Schreibkreide des Maastricht mit Belemnitella und Belemnella.

Ähnlich der rezenter Teuthiden (Kalmare), die aus den Tiefen ihrer Wohngewässer zum Laichen und Jagen in flachere oder höhere Wasserschichten aufsteigen, dürften sich auch die Belemnitelliden verhalten haben. Auch ihre Laich-, Brut- und Jagdreviere lagen im lichtdurchfluteten Flachwasserbereich.

Über das Jagdverhalten und die Beutetiere der Belemnitelliden ist nichts bekannt. Sie jagten vermutlich in Schwärmen, wie viele der küstennah lebenden rezenten Kalmare und Sepien, kleinere Fische, Krebse und andere Coleoideen, wobei die Schwarmbildung nicht nur Mittel zur Steigerung des Jagderfolges war, sondern, neben dem Ausstoß von Tintensekret (und Tarnfarben?), auch Schutz vor Fressfeinden bot. Ferner ist anzunehmen, dass die Belemnitelliden als Dekapoden über zehn mit Haken bewehrte Fangarme verfügten, obwohl Weichteile wie auch hornige bzw. aragonitische Hartteile durch ihre Einbettung in stark alkalische Sedimente (Kalke) nicht erhalten wurden. Da in den Anfängen der Entwicklungsgeschichte der Belemnitelliden auch die oberen Bereiche der Alveole aragonitisch waren, besitzen alle Belemnitellen Gattungen bis auf die der späten Oberkreide (Belemnitella, Belemnella, Fusiteuthis) sog. Pseudalveolen oder weisen, wie Actinocamax, gar nur Rostrenstümpfe auf. Abgesehen von Actinocamax gibt es bei den Belemnitelliden mithin eine klare Tendenz zur Verkalkung der Alveole im Zuge der Evolution dieser Familie. Zudem zeigt sich auch ein zunehmendes Größenwachstum: von den kleinwüchsigen Anfangsgattungen Praeactinocamax und Goniocamax bis hin zu den massigen oder schlanken Rostren der Belemnitellen und Belemnellen.

Rostrumgröße und die Zahl der Zuwachslinien (Amphiteca) sind Indikatoren für die Lebensdauer der Tiere. Vermutlich war diese eher kurz, die Belemnitelliden also schnellwüchsige Tintenfische. Das Auftreten von juvenilen Rostren bei Belemnellocamax, Belemnitella und Belemnella zeigt indes, dass sich die Lebenserwartung bei den größeren Belemnitelliden erhöht zu haben scheint. Da die Amphiteca aber nicht, wie die Jahresringe der Bäume, einen festen, zeitlich festgelegten Rhythmus wiedergeben, bleibt die wahre Lebensspanne der Belemnitelliden im Dunkel.

Viele rezente Tintenfische, seien es Sepien oder Teuthiden, werden nicht älter als ein Jahr und sterben nach dem Laichen zu Hunderttausenden. Umfangreiche Lagerstätten von Rostren gleichen Belemnitenalters, also von annähernd gleicher Größe wie aus dem Jura Europas, aber auch aus der Unterkreide der Antarktis bekannt, wären beredte Zeugen eines derartigen Vorgangs auch bei den Belemnitelliden der Oberkreide. (Unterschiedliche Rostrengrößen könnten auch Ausdruck von Geschlechtsdimorphismus bei Tieren sonst gleichen Alters sein. Ein Beweis von Sexualdimorphismus bei den Gattungen der Familie Belemnitellidae steht indes aus.) Die von Jarvis (1980) genannten 'Gonioteuthis beds' im Phosphatkalk des Pariser Beckens sind ein Beleg solchen Massensterbens noch der Fortpflanzung. In der Norddeutschen Oberkreide sind 'Belemnitenschlachtfelder' dagegen unbekannt. Vielfach finden sich jedoch Häufungen von Belemnitenrostren unterschiedlichen Alters in diversen Horizonten. Diese Häufungen, vornehmlich Gonioteuthis und Belemnitella im Campan, deuten auf ein Zusammenschwemmen vereinzelt liegender Rostren hin oder auf ein Sterben größerer Populationen mangels Nahrung bzw. durch umweltbedingte Störungen in deren Lebensraum.

Anhäufungen von Rostren können nach Doyle/Macdonald (1993) auch durch Erbrechen der von Belemnitenräubern verschluckten Hartteile herrühren. Für das Aussterben der Ammoniten wird von Probst (1986) die These eines übergroßen Selektionsdruckes durch Fressfeinde geäußert. Übertragen auf die Belemniten, könnten die Belemnitelliden durch Raubfische (Knorpelfische/Haie: wie Hexanchus im Campan von Höver, Centrosqualus im Maastricht von Hemmoor; Knochenfische: wie Enchodus im Campan von Höver), durch Meeressaurier und durch andere Tintenfische (z.B. Teuthiden, die als gefräßige Allesfresser bekannt sind und mit den Belemnitelliden zeitgleich vorkamen) schlichtweg „vertilgt“ worden sein. Doch auch hierfür fehlen die fossilen Belege. Zudem spricht die Erfahrung gegen eine Ausrottung durch Räuber, da sich in der Natur zwischen Räuber und Beute ein dynamisches, wenn auch chaotisches Gleichgewicht einzupendeln pflegt. Bissverletzungen (exogene, externe Wachstumsanomalien) an Belemnitelliden sind, im Gegensatz zu Lias Belemniten, auch eher selten. Häufiger finden sich dagegen Anomalien aufgrund interner, wachstumsbedingter (interne, genetische) Wachstumsanomalien oder durch Krankheiten (interne, exogene Wachstumsanomalien) bedingte Störungen des, das Rostrum umhüllenden, kalkabscheidenden Muskelmantels. Derartige lokale Funktionsausfälle des Mantels zeigen sich in Verdickungen, Ausstülpungen und Wucherungen des Rostrums, während durch äußeren Eingriff bedingte Anomalien sich häufig als Verdrehungen und Versetzungen darstellen.

Am Ende des Ober-Maastricht sterben die Belemnitelliden mit Belemnella cazimiroviensis SKOLOZDROWNA, 1932 sowie der (dubiosen) Gattung Fusiteuthis KONGIEL, 1962 als Familie und die Belemniten als Ordnung aus. Es war jedoch kein plötzlicher Niedergang - er hatte sich vielmehr mit dem Verschwinden der letzten Belemnopseiden im Campan angekündigt und geht einher mit einem gewaltigen Umbruch der Fauna (das Zeitalter der Säugetiere beginnt) und der Flora (Übernahme der Herrschaft im Pflanzenbereich durch die Angiospermen). Über die Gründe gibt es noch keine abschließende Klarheit: Die Annahme einer, über viele Jahrtausende andauernden Änderung des Ökosystems, hervorgerufen durch Gebirgsbildungen (Alpen) und den Zerfall der Großkontinente im Zusammenhang mit Kontinentaldrift und Seafloor-Spreading und verbunden mit schwankenden Wassertiefen, Wassertemperaturen und Wasserqualitäten, erscheint am plausibelsten. Diese Änderungen müssen sich auf die Laich- und Jagdbedingungen der Belemnitelliden im borealen Schelfmeer so verheerend ausgewirkt haben, dass sich diese, auf ein bestimmtes Biotop hin ausgerichteten Tintenfische, nicht anzupassen vermochten.

 


Literaturhinweise:

Bandel, K., Spaeth, Chr. (1988): Structural Differences in the Ontogeny of some Belemnite Rostra. Widmann & Kullmann (Hrsg.),Cephalopods - Present and Past, S. 247 - 271, Stuttgart.
Christensen, W.K. (1997): The Late Cretaceous belemnite family Belemnitellidae: Taxonomy and evolutionary history. Bulletin of the Geol. Soc. Denmark, Vol. 44, S. 59 - 88, Kopenhagen.
Doyle, P., Macdonald, D.I.M. (1993): Belemnite battlefields. Lethaia, Vol. 26, S. 65 - 80, Oslo.
Jarvis, I. (1980): Palaeobiology of Upper Cretaceous belemnites from the Phosphatic Chalk of the Anglo-Paris basin. Palaeontology, Vol. 23 (4), S. 889 - 914, London.
Jeletzky, J.A. (1951): Die Stratigraphie und Belemnitenfauna des Obercampan und Maastricht Westfalens, Nordwestdeutschlands und Dänemarks sowie einige allgemeine Gliederungs-Probleme der jüngeren borealen Oberkreide Eurasiens. Beih. Geol. Jb. H.1, S. 127 - 134, Hannover.
Keupp, H. (2002): Pathologische Belemniten. Schein und Wirklichkeit. Fossilien, H. 2, S. 85 - 92, Korb.
Najdin, D.P., Alekseev, A.S. (1975): New Neohibolites from Cenomanian of the Crimea. Übersetzung in: Palaeont. Journal 3, S. 311 - 315.
Probst, E. (1986): Deutschland in der Urzeit. S. 207f, München.